Eine Datenbank für das „Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus“?

Eine Datenbank für das „Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus“?

Organisatoren
Archiv für Zeitgeschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.01.2023 - 30.01.2023
Von
Karlo Ruzicic-Kessler, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Unter dem Motto „Erinnern – Vermitteln – Vernetzen“ entsteht nach Jahren der Diskussion und letztlich mit breiter parlamentarischer Unterstützung das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus. Mit reichlich Verspätung hat die Eidgenossenschaft entschieden, einen nationalen Gedenkort zu errichten, der mahnen und bilden soll. Anlässlich dieser Entwicklung stellt sich die Frage, inwiefern es auch einer Datenbank für das Schweizer Memorial und die Opfer des Nationalsozialismus bedarf und wie diese umgesetzt werden könnte. Das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat zu einer Tagung eingeladen, die sich diesem Thema widmet und in deren Zentrum ebenfalls Vernetzung und Vermittlung stehen.

Der Gastgeber GREGOR SPUHLER (Zürich) zeigte zunächst auf, dass die Frage einer Schweizer Datenbank für die NS-Opfer als ergebnisoffenes Konzept betrachtet werden müsse. Ob es diese überhaupt brauche, sei eine grundlegende Frage für die Anwesenden. Dass die NS-Opfer im Schweizer Bewusstsein lange Zeit kaum oder keine Rolle spielten, bedeutet aber nicht, dass Forscher:innen sich nicht mit dem Thema befasst hätten. Im Gegenteil gibt es mehrere Forschungsgruppen, die mit unterschiedlichen Fragestellungen an das Thema herangehen, was die Vernetzung und den Austausch als zentrale Elemente der Tagung erscheinen lässt. Klar wird, dass mehrere Erfahrungs- und Arbeitsachsen verknüpft werden sollen, um die Ziele der Tagung zu erreichen: bestehende Projekte vorstellen, Archivbestände analysieren und technische sowie juridische Hürden erkennen. Dabei könne die Verspätung, mit der man in der Schweiz an das Tagungsthema herangeht, auch als Chance gesehen werden, aus bereits bestehenden, (inter)nationalen Projekten zu lernen.

Reichhaltige Erfahrung in der Konzeption und Implementierung von Datenbanken bringt das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) mit, das seit über zwei Jahrzehnten an der digitalen Erfassung und Aufbereitung von Daten österreichischer Opfer des Holocaust, Opfer der politischen Verfolgung durch das NS-Regime und ermordeter Roma und Sinti arbeitet. BRIGITTE BAILER (Wien) stellte nicht nur die Funktionen der Datenbank des DÖW1 vor, sondern zeigte auch eine zentrale Herausforderung solcher Projekte auf: Um immer neue Datensätze und Bestände aufnehmen zu können und letztlich erfolgreich zu sein, müssen die Projekte langfristig abgesichert werden. Die Arbeit an den Datenbanken bleibe somit immer work in progress. Zentral ist und bleibt die Zusammenarbeit und der Austausch mit internationalen Datenbankprojekten.

Der erste thematische Block der Veranstaltung diente der Vorstellung unterschiedlicher Forschungsprojekte mit Bezug zu den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus. Bis zur Publikation einer umfassenden Monografie zu den Schweizer KZ-Häftlingen im Jahr 20192 war dieses Thema von der schweizerischen Historiographie fast komplett ignoriert worden. RENÉ STAUBLI (Zürich) stellte die Arbeit zu diesem Buch und die in der Zwischenzeit an das AfZ angegliederte Datenbank als Co-Autor vor und erklärte die Schwierigkeiten hinter dem Opferbegriff und seine unterschiedlichen Schattierungen. Für das vorgestellte Projekt wurde jedenfalls eine klare Definition gewählt, indem jene Personen untersucht wurden, die in einem Konzentrationslager inhaftiert waren und die Schweizer Staatsbürgerschaft besaßen. Tatsächlich zeigte sich in der anschließenden Diskussion, dass die versammelte Runde an Expert:innen die Frage nach der Definition von Opfern, die eine zukünftige Datenbank enthalten könnte, sehr unterschiedlich betrachtet.

Dies wurde im Zusammenhang mit dem „Stolpersteine“-Projekt umso deutlicher.3 JAKOB TANNER (Zürich) reflektierte über das in der Schweiz noch relativ junge Unterfangen, der Opfern des Nationalsozialismus durch sogenannte Stolpersteine zu gedenken. Anders als in vielen europäischen Staaten, wo die letzte Wohnadresse vor der Deportation einer Person für die Legung eines Stolpersteins ausschlaggebend ist, wird in der Schweiz ein Ort oder eine Adresse gewählt, wo sich NS-Opfer besonders lange aufgehalten haben, die somit einen besonderen Bezugspunkt in ihrem Leben bildeten. So werde verdeutlicht, dass dieses Thema auch die neutrale Schweiz etwas angeht und diese nicht abseits der Geschichte steht. Damit weitet das Projekt den Begriff der Schweizer Opfer aus und stellt die Frage nach der Staatsbürgerschaft nicht.

Mit der Frage nach dem Arbeitsbegriff „Schweizer Opfer“ des NS-Regimes befasste sich auch CHRISTINA SPÄTI (Fribourg), unter deren Leitung ein vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Projekt alle Schweizer Opfer des NS-Regimes und die behördliche Praxis beim Opferschutz während und bei der Widergutmachung nach dem Krieg betrachtet.4 Auch in diesem Projekt steht die Erarbeitung (zunächst) einer Arbeitsdatenbank für die Schweizer Opfer im Fokus. Dabei sticht hervor, dass von Arisierung über Haft/Internierung bis zu willkürlichen Polizeipraktiken ein sehr weites Untersuchungsfeld eröffnet wird, dem ein nuancierter und exakter Begriff vorangestellt werden muss. Es wird ebenfalls deutlich, wie viele Opfer auch die neutrale Schweiz während der NS-Zeit zu beklagen hatte.

Dass die Frage einer Opfer-Definition sehr komplexe Züge annimmt, bewies die produktive Diskussion am Ende des Panels, die zwar zu keinem eindeutigen Begriff führte, aber die Komplexität verschiedener Betrachtungsweisen zu verdeutlichen vermochte und damit den Forschenden neue Impulse gab.

Für den Aufbau von historischen Datenbanken sind der Zugang zu Primärquellen und die Möglichkeit, diese auszuwerten, eine entscheidende Komponente. GUIDO KOLLER (Bern) betrachtete die Datenbank-Frage aus der Archivpraxis. Das Schweizerische Bundesarchiv (BAR) in Bern beherbergt zentrale Dokumente für die Erforschung der Thematik. Die klare Archivstruktur und Bestandsordnung ermöglichen eine rasche Vertiefung. Allerdings zeigt sich, dass eine genaue Studie und Auswertung der in Frage kommenden Dossiers des BAR eine Herausforderung für sich darstellen.

HERMANN WICHERS (Basel) konnte am Beispiel des Kantonsarchivs Basel-Stadt diesen Eindruck bestätigen. Grenzkantone spielen für die Erforschung der Thematik von NS-Opfern naturgemäß eine besondere Rolle, die sich auf die föderalen Strukturen der Schweiz zurückführen lässt. Die sehr umfangreichen Quellenbestände zur Arbeit der kantonalen Fremdenpolizei oder des Kontrollbüros in Basel etwa, die hunderttausende personenbezogene Dokumente enthalten, sind zu einem großen Teil nur über historische Findbücher erschließbar und bedürfen noch einer genauen Auswertung. Dabei sind Forschende per Anfrage auf die Personalressourcen des Archivs angewiesen.

SABINA BOSSERT (Zürich) gab einen Einblick in die aus den Beständen des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen erstellte Datenbank, die vom Archiv für Zeitgeschichte in Zürich aufgebaut wurde.5 Damit wurde ein Projekt vorgestellt, das viele Funktionen einer potenziellen nationalen Datenbank für NS-Opfer enthält. Die mannigfaltigen Kategorien (persönliche Daten, Einreise, Fluchtgrund, Informationen Schweizer Behörden) geben Forschenden die Möglichkeit, auf unterschiedliche Art und Weise Daten zu kreuzen und etwa statistische Fragen zu beantworten. Auch in diesem Fall bedarf es allerdings einer Anfrage an das Archiv. Als Gewinn erscheint die Möglichkeit, eine Verknüpfung der Datenbank des AfZ mit einer zentral angelegten Datensammlung für die Opfer des Nationalsozialismus einzurichten.

Besonders aufschlussreich für die Diskussion über eine Schweizer Datenbank für die Opfer des NS-Regimes waren die Ausführungen von FABIENNE MEYER (Fribourg) und Gregor Spuhler, die gemeinsam Überlegungen zur Konzeption einer solchen Datenbank darlegten. Dabei stechen Fragen hervor, wie die Möglichkeit zur Verknüpfung verschiedener Projekte und Datenbanken in einem zentralisierten System funktionieren und was eine zentrale Datenbank leisten können soll. Die Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Daten steht im Zentrum, ebenso die Ausbaufähigkeit einer neuen Datenbank, wobei diese nur wenige personenbezogene Informationen enthalten, aber für die weitere Erforschung auf andere in der Datenbank verknüpfte Projekte und Datenbanken verweisen soll, wo genauere und umfangreichere Informationen vorgefunden werden können.

Im letzten Teil der Veranstaltung öffnete sich die Diskussion auf technische und rechtliche Fragen zur Umsetzbarkeit eines Datenbankprojektes. Dabei sticht hervor, dass die föderale Struktur der Schweiz besondere Aufmerksamkeit im Bereich des Zugangs zu nationalen und regionalen (kantonalen) Archiven bedingt und die Umsetzung einer zentralen Datenbank, die unterschiedliche Projekte miteinander verknüpft, eine genaue Prüfung der technischen Möglichkeiten erfordert. BEAT RUDIN (Basel) und GEROLD RITTER (Zürich) porträtierten diese Schwierigkeiten mit lösungsorientierten Ansätzen und gaben einen Einblick in eine weitere Dimension für die Diskussion über eine Schweizer Datenbank für die Opfer des Nationalsozialismus.

Die Schlussdiskussion zeigte wiederum, dass diese Tagung einen ersten Schritt darstellt. Grundlegend bleibt die Frage, ob es einer zentralen Datenbank bedarf oder ob mit den bereits bestehenden fragmentierten Projekten gearbeitet werden kann. Redundanzen sind bei solcherlei Projekten vorprogrammiert und müssen angesprochen werden. So scheint die Möglichkeit des Aufbaus einer Suchmaske, die auf einzelne Projekte verweist und diese lose verknüpft, ein Ansatz zu sein, dem alle Teilnehmer:innen etwas abgewinnen können. Am Ende der spannenden Tagung blickte man auf die Möglichkeit des Aufbaus einer „föderal“ organisierten Suchmaschine, die die Vielfältigkeit der Forschung abzubilden vermag. Ob und wie die Datenbank umzusetzen sein wird, lässt sich noch nicht beantworten. Die Vernetzung verschiedener Gruppen von Forscher:innen und der Austausch werden dank der Veranstaltung jedenfalls konstruktiv weitergeführt.

Konferenzübersicht:

Gregor Spuhler (Zürich): Begrüßung und Einführung

Brigitte Bailer (Wien): Eröffnungsreferat. Die Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands

Forschungsprojekte

René Staubli (Zürich): Die Schweizer KZ-Häftlinge

Jakob Tanner (Zürich): Stolpersteine Schweiz

Christina Späti (Fribourg): SNF-Projekt zu den Schweizer Opfern der NS-Gewaltherrschaft

Archivbestände

Guido Koller (Bern): Daten des Schweizerischen Bundesarchivs: Eine Auslegeordnung zu
inhaltlichen und rechtlichen Fragen

Hermann Wichers (Basel): Die Personendossiers der Kantonalen Fremdenpolizei Basel-Stadt und ihre Bedeutung zur Rekonstruktion von Flüchtlings- und Migrationsbiographien

Sabina Bossert (Zürich): Das Archiv für Zeitgeschichte und die VSJF-Flüchtlingsdatenbank

Fabienne Meyer (Fribourg) / Gregor Spuhler (Zürich): Überlegungen zur Konzeption einer Schweizer Datenbank

Diskussion mit Beat Rudin, Experte juristische Aspekte (Basel) und Gerold Ritter, Experte Datenbanken (Zürich)

Moderation: Erik Petry

Anmerkungen:
1https://www.doew.at (6.2.2023).
2 Balz Spörri/René Staubli/Benno Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs, Zürich 2019.
3 https//www.stolpersteine.ch (6.2.2023).
4https://www.unifr.ch/histcont/de/forschung/forschungsprojekte/zwischen-opferdiplomatie-und-entschaedigungsforderungen.html (6.2.2023).
5https://onlinearchives.ethz.ch/ (6.2.2023).

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